Vanitas trifft Pop: wie Carpe Diem heute aussieht

Claudia Brasse • 16. September 2025

Leben im Angesicht der Vergänglichkeit

Vom Memento Mori Totenschädel zum lebensbejahenden Motiv - Wie ich klassische Vanitas Symbole für die Vergänglichkeit mit Farbe und Humor in meiner Kunst in Lebensfreude übersetze



Memento Mori in zeitgenössischer Malerei: Schädel, leuchtende Farben, Humor und Hintersinn


Carpe diem ist für mich keine Hektikformel, sondern eine Einladung zur Bewusstheit. Meine Stillleben mit Totenschädeln knüpfen an eine lange Kunsttradition von Memento Mori und Vanitas an – aber Totenschädel müssen nicht zwangsläufig was mit Morbidität zu tun haben. Ich verwende leuchtende Farben, die Mut machen, kombiniert mit Humor und Hintersinn. Es geht um nichts weniger als den Sinn des Lebens.


„Carpe Diem, quam minimum credula postero“ – Pflücke den Tag, vertraue so wenig wie möglich auf den nächsten. So schrieb Horaz vor über 2000 Jahren in seinen Oden. Ein Satz, der bis heute nachhallt. Für mich begann die Reise zu diesem Thema allerdings nicht in der Antike, sondern mit einem Fußballverein.


Wie alles anfing: St. Pauli, Haltung und ein Geschenk

Am Anfang standen zwei Bilder – Ich wollte meinem Partner eine Freude machen. Er ist St. Pauli-Fan, und wer Hamburg kennt, weiß: Das Totenkopf-Logo mit den gekreuzten Gebeinen ist mehr als nur ein Vereinswappen. Es steht für Haltung – gegen Rassismus, für Vielfalt, Solidarität, für ein alternatives Lebensgefühl, gegen den Mainstream. Ein Symbol des Widerstands, aber auch der Freiheit.
Also malte ich zwei Bilder von Totenschädeln, zunächst ohne weiteren Plan.


Und dann bekam ich Lust, das Thema auszuweiten. Mich hat schon immer fasziniert, wie früher Stillleben voller Symbolik waren und alle Gegenstände auf dem Tisch eine tiefere Bedeutung verkörperten. Die alten Portraits von reichen Kaufleuten, neben sich einen Totenschädel, gingen mir nicht mehr aus dem Sinn. Ich wollte das Motiv weiterdenken, aus der düsteren Ecke holen und positiv interpretieren. Totenschädel, Alltagsobjekte, leuchtende Farben – und plötzlich war da eine ganze Serie voller Lebensfreude: Carpe Diem



Wenn wir uns der Endlichkeit stellen, gewinnt der Alltag an Tiefe. 

Carpe Diem, Memento Mori, Vanitas – drei Begriffe, ein Thema

  • Carpe Diem (Horaz): Nutze den Tag – nicht als Hektik, sondern als bewusste Präsenz.
  • Memento Mori: Gedenke des Todes – nicht, um Angst zu machen, sondern um Prioritäten zu klären.
  • Vanitas: die Vergänglichkeit alles Weltlichen – ein Thema der Kunstgeschichte, das im Stillleben des 16./17. Jahrhunderts ikonisch wurde.

Für mich ergeben sie zusammen eine Haltung: Sinn des Lebens entsteht, wenn wir Endlichkeit nicht verdrängen, sondern in Gestaltung verwandeln.


Carpe Diem. Feiere das Leben, jeden Tag. 

Renaissance bis Barock: Wie die Symbolik entstand

In der Renaissance taucht der Schädel als Denkfigur auf:


  • Masaccio, „Trinità“: Ein Skelett unter dem Heiligenbild erinnert nüchtern: Was ihr seid, war ich; was ich bin, werdet ihr sein.
  • Albrecht Dürer, „Hl. Hieronymus“: Der Schädel liegt als Meditationsobjekt im Studierzimmer – nicht gruselig, sondern erkenntnisoffen.
  • Holbein, „Die Gesandten“: Ein verzerrter Schädel wird erst aus schrägem Blick sichtbar – Perspektive macht Vergänglichkeit plötzlich klar.


Im Barock wird die Vanitas zum eigenen Genre: Stillleben mit Schädel, Sanduhr, Kerze, Seifenblase, Buch und Instrument zeigen, wie Zeit vergeht, Klang verhallt und Pracht vergeht – und eröffnen doch Raum zum Staunen.


Symbollexikon: Zeichen lesen, Sinn finden

  • Schädel/Knochen – Memento Mori, Gleichheit vor dem Tod, Fokus auf das Wesentliche.
  • Sanduhr/Uhr – Verrinnende Zeit, leise Erinnerung an Carpe Diem.
  • Kerze (brennend/verloschen) – Lebenskraft, Rauch = Entschwinden.
  • Blumen (blühend/verwelkt) – Zyklus des Lebens, Schönheit im Übergang.
  • Seifenblase – Homo bullaFragilität und schillerndes Jetzt.
  • Bücher/Globus/Zirkel – Wissen und Weltaneignung (auch das altert).
  • Zitrone – Strahlend außen, bitter innen: Ambivalenz des Schönen.
  • Musikinstrumente – Vergänglicher Genuss: Der Ton ist sofort Vergangenheit.
  • Spiegel – Selbsterkenntnis vs. Eitelkeit (vanitas).
  • Karten/Würfel – Zufall und Spiel des Lebens.


Mein Ansatz: Farbe, Humor, Gegenwart

Viele Menschen reagieren auf Totenschädel mit Ablehnung: „Das ist morbide, das will ich nicht täglich im Wohnzimmer sehen.“ Ich verstehe das – Bilder sind Gegenüber, die täglich mit uns sprechen.


Aber warum stößt das Motiv auf so viel Widerstand? Ist es doch die Angst vor der eigenen Endlichkeit?


Ich sehe das anders. Meine Bilder sind bunt, fast fröhlich. Sie spielen mit Symbolen, mit Hintersinn und manchmal mit einem Augenzwinkern. Ich verwende lebendige Farben, teils klare Kontraste und popkulturelle Anmutung und Streetart Elemente. Zutaten von heute: Brille, Schmuck, eine Narrenkappe, ein Fläschchen (mit Gift?) – Stillleben stellen Nähe zu den Renaissance- und Barock-Codes her, aber ohne Pessimismus. Ich möchte, dass man die Bilder ansehen und lächeln kann. Vanitas wird zur Einladung, und Carpe Diem zur praktischen Haltung.


Denn für mich steckt in der Erinnerung an die Vergänglichkeit kein Schrecken, sondern eine Einladung: Lebe jetzt. Gestalte. Genieße. Wie schon Goethe sagte: „Augenblick, verweile doch, du bist so schön.“ – ein Satz, der in seiner Ambivalenz perfekt zu Carpe Diem passt.



Drei Beispiele aus der Serie

  • „Aber bitte mit Sahne“ – Schädel trifft Süßes, ohne die Torte zu zeigen: wenn ältere Damen im Kaffeehaus der Lust auf Süßes nachgeben. Eine Einladung zu einem Leben in Balance mit Sahne. Genuss & Vergänglichkeit. Carpe Diem heißt bewusst genießen, nicht verleugnen.
  • „Einmol Prinz zo sin“ – …und dann? Karnevalskrone, der Traum von Glanz und Rollenwechsel - auf Zeit. Der Karneval feiert die Endlichkeit, bevor die Fastenzeit beginnt. Memento Mori erdet, Lebensfreude bleibt. Leben zwischen Traum und Realität.
  • „Stammtisch“ – ohne Stammtischrequisiten. Und doch: Getränke, Gespräche, Lachen: Zeit als stiller Gast. Vanitas macht die Gemeinschaft wertvoll. Geselligkeit und Rituale, die sich wiederholen, bis sie selbst vergehen.



Originale anfragen

Carpe Diem als freundlicher Imperativ

„Mut machen auf Morgen“ – das ist mein künstlerischer Antrieb. Carpe Diem bedeutet für mich, bewusst zu leben. Den Moment zu schätzen, ohne die Zukunft aus den Augen zu verlieren. 

Vielleicht ist die Vergänglichkeit kein Feind. Sie erinnert uns daran, dass jeder Tag zählt. Der Sinn des Lebens wird damit praktisch greifbar: Sieh hin. Wähle bewusst. Gestalte.


Carpe Diem bedeutet, Prioritäten zu leben; Memento Mori hilft beim Sortieren; Vanitas lehrt Demut. Oder, um Horaz frei zu paraphrasieren: Heute ist formbar – morgen ist ungewiss. Die Farbe holt das alles ins Heute und ermutigt zum Handeln.


Serie ansehen

Die ganze Serie findest du hier:

➡️ www.labor-der-malerin.de/galerie/carpe-diem


Ich freue mich über Austausch: Was bedeutet Carpe Diem für dich?

Carpe Diem Serie ansehen

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